Bombardierung Flammersbachs am 1. Febr. 1945

Eine Dokumentation von Ulli Weber

Durch Krieg und große Schrecken

Geleitwort

Bei dem Titel der nachstehenden Aufzeichnung handelt es sich um eine Zeile aus der dritten Strophe des Neujahrliedes „Nun lasst uns gehn und treten” von Paul Gerhardt. Meines Erachtens passt sie ganz gut zu dem, was ich im Anschluss berichte.

Der größte deutsche Liederdichter lebte zur Zeit des 30-jährigen Kriegs und er ist in diesen Jahren dem durch Seuchen und Gewalt ständig drohenden Tod immer wieder entkommen. Die Schrecken eines Bombenkriegs hat er dagegen nicht kennen gelernt. Ob Paul Gerhardt in diesem Fall einen Grund gehabt hätte, zu den 15 Strophen des Liedes weitere hinzuzufügen…?

In den ersten Jahrzehnten nach dem letzten Krieg war die Bombardierung vom 1. Februar 1945, die eigentlich und ausschließlich der Stadt Siegen galt, in Flammersbach allgegenwärtig. Das Inferno wurde Der Angriff genannt und alle Vorfälle, die sich in den Jahren vor und nach den furchtbaren Geschehnissen zugetragen hatten, bekamen die erläuternden Beifügungen Das war noch vor dem Angriff oder Das war erst nach dem Angriff. Als Kind hatte sich bei mir durch die Erzählungen vor allem meiner Großeltern der Eindruck verfestigt, dass sich die britischen Bomber ausschließlich mit dem Ziel auf den Weg gemacht hatten, mit ihren Bombenabwürfen Flammersbach zu zerstören und hierdurch den Krieg zu gewinnen. Der schwärzeste Tag in der Ortsgeschichte bildete immer wieder in jedem Haus das Gesprächsthema. Keiner unter den friedlichen Menschen, die diesen Tag des Grauens mit der Fast-Vernichtung ihres kleinen Dorfs miterleben mussten, konnte ihn jemals vergessen!





Lincolshire - eine stille Grafschaft

Die Grafschaft Lincolnshire liegt im Nordosten Englands. Abseits der vielen Touristikzentren ist man in der stillen Grafschaft vor allem darauf stolz, dass der berühmte Wissenschaftler Isaak Newton hier geboren wurde. Dem fiel einst ein Apfel auf den Kopf, was ihn zur Entdeckung der Schwerkraft verleitet haben soll. Hier hatte im zweiten Weltkrieg die 5. Gruppe der britischen Royal Air Force ihre Flugplätze. Auf diesen starteten am späten Nachmittag des 1. Februar 1945 neben einer Vielzahl von viermotorigen schweren Bombern des hauptsächlich für Nachtangriffe benutzten Typs „Lancaster” auch einige wenige der vor allem aus Sperrholz, Fichten- und Birkenholz gefertigten zweimotorigen Jagdbomber des Typs „Mosquito”. Zwei Rolls-Royce-Motoren verliehen dem Flieger mit der ungewöhnlichen Holzbauweise eine für damalige Verhältnisse sehr hohe Geschwindigkeit (630 km/h) und zusammen mit einer guten Höhenflugeigenschaft war die zweisitzige Maschine für die deutsche Luftabwehr nahezu unangreifbar. Aus diesem Grund sprach man dort recht schnell von einer Mosquito-Plage.

Insgesamt erhoben sich an diesem Tag trotz schlechter Wetterbedingungen 1274 Flugzeuge in die Luft, von denen der größere Teil Ziele in Mainz und in Ludwigshafen angreifen sollte. Für 282 Bomber indes war als Zielort Siegen befohlen worden. Drei Tage zuvor erst hatte die US Air Force einen zerstörerischen Angriff auf diese Stadt geflogen, bei dem neben 16 Soldaten auch 9 Zivilisten starben.

Dröhnend und Angst einlößend...

Die Eisentore für die beiden Öffnungen des Luftschutzstollens waren von der Lieferfirma Menges am Vormittag eingebaut worden. Ansonsten war der 1. Februar in dem kleinen Siegerländer Dorf Flammersbach ähnlich ruhig verlaufen wie die Tage zuvor. Die bittere Januarkälte war milderem Tauwetter gewichen und die dicke Schneedecke war im Schwinden. Die Gespräche in den Häusern drehten sich aber kaum um das Wetter. Vielmehr war der nun schon mehr als fünf Jahre andauernde Krieg fortwährend ein Thema. Um die Frage: „Wie lange wird diese unselige Zeit noch währen”, drehten sich die ständigen Erörterungen. Fast jede zweite Familie hatte in den letzten Jahren die schreckliche Nachricht erhalten, dass ein Sohn „für Führer, Volk und Vaterland” in den Weiten Russlands oder andernorts sein Leben gelassen habe. Vor allem der Luftkrieg war aber auch in Flammersbach präsent. Immer öfter überquerten feindliche Fliegerverbände auf ihrem Weg nach den östlichen Großstädten dröhnend und Angst einflößend den Ort. Viele Einwohner waren in den letzten Wochen einmal in Siegen gewesen und hatten gesehen, welch eine riesige Zerstörung die ständigen Angriffe auf diese leidgeprüfte Stadt angerichtet hatten. In den Abendstunden des 16. Dezember 1944 war fast die gesamte Flammersbacher Bevölkerung auf die Höhe geeilt und hatte mit Schaudern, Angst im Herzen und mancher Träne in den Augen den glutroten Himmel über der Stadt gesehen, der von schlimmer Not und großem Elend, von grässlicher Vernichtung und entsetzlichem Leid Kunde gab. Dass die Stadt noch einmal das Ziel eines solchen Angriffs sein könne, war von vielen Siegerländern ausgeschlossen worden. Was hätten weitere Bomben hier noch anrichten können? Es war ja schon so viel zerstört. Und doch hatten die westlichen Alliierten, deren taktischen Überlegungen etwas ganz anderes - nämlich vor allem die Demoralisierung der deutschen Bevölkerung - vorsahen, dort am 29. Januar erneut zahlreiche Sprengkörper aus B-17-Bombern abgeworfen.

Unter der Anleitung von Sprengmeister Düber...

Obwohl die Machthaber offiziell zunächst die Überzeugung verbreiteten, dass niemals ein feindliches Flugzeug das Deutsche Reich in Gefahr bringen könne (Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe: „Wenn auch nur ein feindliches Flugzeug unser Reichsgebiet überfliegt, will ich Meier heißen.”), fielen schon im ersten halben Jahr nach Kriegsbeginn englische Bomben im Reichsgebiet. Diese Realität berücksichtigend setzte die Regierung am 10. Oktober 1940 ein Sonderprogramm für den Luftschutz auf. Danach mussten überall, wo noch keine Luftschutzräume vorhanden waren, solche in bombensicherer Ausführung gebaut werden.

In Flammersbach nahm man sich ebenso wie in vielen anderen Dörfern abseits der kriegswichtigen Industriezentren - und daher ohne jegliche strategische Bedeutung - Zeit mit der Realisierung. Als die Bombenangriffe jedoch immer mehr zunahmen, ging auch die Flammersbacher Gemeindevertretung unter Mithilfe eines gewissen Drucks durch die Parteifunktionäre der NSDAP im Jahr 1944 auf die Suche nach einem Platz für einen Luftschutzstollen.

Zeitgleich hielt man Ausschau nach einem fachkundigen Bauleiter. Man fand Letzteren in dem erfahrenen Rudersdorfer Sprengmeister Düber, der sein gefährliches Handwerk in der Weidenauer Grube Neue Haardt ausgeübt hatte und der auch in seinem Heimatort Leiter beim Stollenbau war. Als Platz wurde die hohe Böschung an dem zum Flurstück „Im Heiersche” führenden Weg auserkoren. Oberhalb des Gebäudes mit dem Hausnamen „Hartmanns” erstellte man das etwa vier Meter breite Mundloch für den mehr als fünfzig Meter tiefen Stollen und etwa dreißig Meter weiter, schräg gegenüber dem Oberdorf-Backhaus, ein zweites. Dieses war etwas kleiner und sollte für die Entlüftung und für den Druckausgleich bei Detonationswellen sorgen.

Hufeisenförmig waren beide Stollenteile miteinander verbunden. Am Scheitelpunkt schuf man einen etwas größeren Raum, „Saal” genannt. Hier und auch an den Stollenwänden standen Holzpritschen, zum Teil zweistöckig. Viele Menschen die sich tagsüber im Ort aufhielten halfen beim Beseitigen des gesprengten Abraums, angefangen von den älteren Schulkindern bis zu Jugendlichen, Frauen, Invaliden und Rentnern. Eingesetzt wurden nicht zuletzt auch ein Dutzend russischer Kriegsgefangener, die in einem Lager im benachbarten Deuz untergebracht waren.

Eine unerwartet niedrige Wolkendecke

Die in Richtung Siegen fliegende Bomberflotte hatte den Rhein überquert und näherte sich ihrem Zielort. Sie flog hoch über der Wolkenobergrenze von etwa 2.000 Meter. Zwei Pfadfinderverbände mit Spezialaufgaben flogen voraus. Die „Beleuchter” hatten die Aufgabe, große Mengen Leuchtbomben abzuwerfen. Im Schein dieser Markierungen, deren Sinkgeschwindigkeit durch Fallschirme gemildert wurde, mussten dann die „Sichtmarkierer” farbige Zielzeichen setzen. Weil wegen der längeren Leuchtwirkung mehrere dieser Bomben verbunden wurden und hierdurch eine traubenförmige Ausstrahlung bekamen, wurden sie im Volksmund „Christbäume” genannt. Die Bomberschützen sahen aus 6.000 Meter Höhe wie bis zu 60 Markierungen rund um den Zielpunkt sprühten und konnten sich hieran orientieren. Weil diese Lichter nach verhältnismäßig kurzer Zeit durch die Wolkendecke sackten, galt es sie während des Angriffs ständig zu erneuern.

Wegen der unerwartet niedrigen Wolkendecke hatten an jenem Donnerstag die Pfadfinderverbände größte Schwierigkeiten, das Angriffsziel zu markieren. Immer wieder mussten sie unterhalb der Wolken ihr Ziel ausfindig machen, um dann oberhalb die Markierungen anzubringen. Neben dieser Sichtbehinderung kam hinzu, dass der stärker werdende Wind gedreht hatte. Gerade diese Tatsache war maßgebend für das, was kommen sollte. Rund 20 Minuten lang kreisten die abwurfbereiten Bomber bis zum Beginn ihrer Aufgabe über dem Zielgebiet. Dann erst waren die Markierer fertig geworden und die Besatzungen konnte mit ihrer todbringenden Arbeit beginnen.

...mit Öl getränkte Holzwolle

Zwischen dem Siegener Höhenzug „Eisernhardt” und dem kleinen Ort Rödgen hatte die Flugabwehr Ablenkstellungen eingerichtet. Es waren kleine Betonbunker gebaut worden, in deren Nähe bei einem nächtlichen Luftangriff mit Öl getränkte Holzwolle entzündet wurde, um durch diese Feuer feindliche Flugzeuge irrezuleiten und zum Abwurf ihrer tödlichen Fracht über unbewohntem Gebiet zu veranlassen. Von diesen Stellungen aus zur Irritierung des Gegners abgeschossene Leuchttraketen flogen ziemlich schnell in Richtung Osten über Flammersbach hinweg und waren hier noch vor den Markierungen der Engländer zu sehen.

Vollalarm und die blitzschnelle Endscheidung

Der Voralarm mit warnendem Aufheulen der Sirene, die auf dem Dach des Niederdielfener Bahnhofsgebäudes angebracht war, hatte niemanden im Ort beunruhigt. Diesen Alarm hatte es in den letzten Monaten laufend gegeben. Oftmals war man auf die Straße geeilt und hatte den nach Osten fliegenden Bomberverbänden nachgeschaut. Auch das als Vollalarm oder Akutalarm bezeichnete Signal mit ständigem Auf- und Abschwellen war immer wieder einmal zu hören gewesen. Weil es nie zu einem Zwischenfall kam, blieb die Einwohnerschaft recht ruhig und unbeeindruckt. Die eintönige und zugleich drohende Melodie, die an diesem Abend viele Flammersbacher veranlasste, vor die Haustüre zu treten und die Lage zu sondieren, brachte ein ganz neues Resultat. Denn ein jeder, der kurz vor 19 Uhr zum Himmel blickte, die vielen und alles erhellenden Leuchtschirme aus den Rödgener Stellungen sah und die hieraus resultiernden Folgen bedachte, hatte blitzschnell eine Entscheidung zu treffen: Eile ich mit meinen Angehörigen in den Bunker oder suche ich Geborgenheit im eigenen Keller? Bisher hatte der Stollen noch keinen Schutzsuchenden aufgenommen, aber diesmal war alles anders.

"Es kommt etwas Fürchterliches!"

Dem Stollen gegenüber - etwa 50 Meter entfernt - steht das um 1780 erbaute Haus „Kills”. Das Gebäude gehörte den Eheleuten Lina und Gustav Klein, hatte aber - wie allgemein üblich - den Namen eines Vorbesitzers als den im Ort gebräuchlichen Hausnamen behalten. Dort war an diesem Tag Alma Scholl aus Feuersbach zu Besuch. Sie war eine Schwägerin der Klein-Tochter Frieda Scholl. Deren jüngster Bruder Gottlieb hatte gerade Urlaub vom Reichsarbeitsdienst und sollte die Feuersbacherin um 19 Uhr auf ihrem Heimweg begleiten. Der 18-Jährige vernahm kurz vor dem Aufbruch als Einziger im Haus das Akutsignal der Sirene, ging vor die Türe und kam blitzartig mit den Worten zurückgestürmt: „Kinder, schnell! Macht dass ihr in den Bunker kommt! Es kommt was Fürchterliches!

Aus seiner Stimme und seinem Gesichtsausdruck ersah die Familie und ihr Besuch, dass keine Sekunde Zeit zu verlieren war. Alle sprangen auf und eilten ohne lange nachzudenken zum Ausgang. Lediglich Gottlieb Kleins verheiratete Schwestern, Frieda Scholl und Toni Weber, stopften hurtig erst noch ein Köfferchen mit Windeln und Kinderkleidung voll und hasteten mit ihren zehn und sieben Wochen alten Säuglingen Karl-Hermann und Ulli hinter den anderen her in den Stollen. Die wenigen im Eingangsbereich Stehenden rückten angesichts der Kleinen zur Seite und machten Platz. Im düsteren Schein einiger Karbidlampen eilte die kleine Gruppe rasch bis zum Saal, der hintersten Stelle des Schutzraums. Hierher drängten sich Viele, denn an den Türen wollte kaum einer stehen oder sitzen. Im Saal stand - wieso auch immer - ein Backtrog, in den die beiden jüngsten Flammersbacher Einwohner gelegt wurden.

Tante Marta lief zum Stollen

In dem von der Familie Knipp bewohnten Haus „Heide”, etwa 50 Meter oberhalb Kills auf der anderen Straßenseite gelegen, hatte man die Entscheidung getroffen, mit sechs Personen im eigenen Keller Schutz zu suchen. Die im Haus lebende Tante Martha war zwar zum Stollen gelaufen, doch der Hausherr, Hermann Knipp, ging davon aus, dass es, wie bisher immer, so schlimm wohl nicht kommen würde. Ähnlich dachten auch weitere Einwohner, die ebenfalls nicht allzu weit entfernt vom Stollen wohnten, wie zum Beispiel „Lüttmanns” und „Vitts”. Für andere, die ihr Haus im Unterdorf hatten, schien der Weg zum Bunker zu weit. Fritz Klein, Hausherr von „Onne Schrinnersch”, verbot - trotz der nahenden und von ihm auch erkannten Gefahr - den Anwesenden, das Haus zu verlassen: „Für den Bunker ist es zu spät. Wir bleiben alle hier.” Einige aus dem Oberdorf suchten hingegen den für sie näher gelegenen Stollen der ehemaligen Grube Transvaal östlich des Dorfs auf.

Es wird für ewig wunderbar bleiben, dass letztlich alle, die für sich und ihre Angehörigen eine Entscheidung zu treffen hatten, die richtige trafen, denn Menschenleben waren am 1. Februar in Flammersbach nicht zu beklagen. Auf alles andere hatte niemand im Ort einen Einfluss.

Die Wirkung von Luftminen

Die britischen Flugzeuge begannen gemäß der späteren Meldung ihres Kommandanten an das Luftfahrtministerium um 19.04 Uhr mit dem Abwurf von 435.000 Kilogramm Brandbomben und 871.000 Kilogramm Sprengbomben. Dazu wurde eine Vielzahl Phosphorkanister abgeworfen. Verheerend war die Wirkung der sogenannten Luftminen, die mit hochexplosivem Sprengstoff gefüllt waren und mehrere Tonnen schwer sein konnten. Sie hatten eine ganz dünne Hülle und drangen deshalb nicht tief in den Boden ein. Dies war gewünscht, denn die Folge war eine besonders große Detonationswelle. Diese bis zu einem Meter dicken und mehrere Meter langen Minenbomben sollten unter anderem im weiten Umkreis Dächer abdecken und hierdurch leichten Zugang für die Brandbomben schaffen. Wer ein direktes Opfer wurde, der starb an Lungenriss.

Die Bombardierung begann wie geplant in Siegen, durch die vom Wind weg getriebenen Markierungen verschob sich das Abwurfgebiet aber rasch in Richtung Osten über Kaan-Marienborn, Flammersbach und Gernsdorf bis nach Weidelbach im Dillkreis. Die weitaus meisten Bomben landeten im Hauberg und auf den Wiesen und Feldern. Doch der Rest reichte aus, um unbeschreibliches Leid anzurichten.

Gewaltige Schläge und grausiges Geprassel

Neben den Einwohnern von Flammersbach hatten sich in den Stollen auch viele aus den Städten des Ruhrgebiets und des Rheinlands ausgesiedelte Frauen und Kinder geflüchtet. Man nannte sie „die Evakuierten”. Sie sollten den ständigen und weiter zu erwartenden Bombenangriffen auf ihre Heimatstädte entgehen und waren verschiedenen Häusern zugeteilt worden. Nun erlebten sie mit bangem Herzen und ebenso hilflos wie die Einheimischen in der scheinbar so sicheren Provinz den Beginn des Bombardements.

Mit gewaltigen Schlägen und grausigem Geprassel begann das Inferno. Es schmetterte und dröhnte aus allen Richtungen und die Erde schien zu zittern. Der Luftdruck der Detonationen kreischte regelrecht durch den Ort. Mal waren die Einschläge weiter weg, mal schienen sie in unmittelbarer Nähe. Unaufhörlich war die Luft von einem Sausen und Zischen erfüllt, das in mächtigem Explosionsgetöse endete. Dazwischen gab es irgendwann einen von einer Luftmine ausgelösten Schlag, wie er bis dahin noch nicht zu vernehmen gewesen war. Die mächtige Detonationswelle erfasste auch die Bunkerinsassen, die verzweifelt nach Luft rangen und dachten, ihr letztes Stündchen wäre gekommen. Unüberhörbar schrillten die Schreie der Verzweifelten.

Zunächst war über die feindlichen Angreifer noch die Strafe des Himmels herabbeschworen worden: „Die Verbrecher da oben müssten alle abstürzen und elendiglich verrecken!” Gedanken wie: „Womit haben wir das nur verdient?”, durchfuhren die Köpfe. Doch dann verstummten endlich auch die zum Himmel gesprochenen Stoßgebete. Übrig blieb nur ein dumpfes Warten auf das Ende des Furchtbarsten, was jeder bisher erlebt hatte. Und viele glaubten keine Sekunde lang, dass sie lebend aus dieser Hölle herauskommen würden.

Das Geburtshaus des Verfassers um 1936

Das Geburtshaus des Verfassers um 1936

Das Gebäude wurde beim Angriff stark beschädigt

..mit Wasser nicht zu löschender Inhalt

Im Haus „Onne Schrinnersch” konnte man durch ein Kellerlfenster den Großteil des Dorfs überblicken. Und es dauerte gar nicht lange, da gaben die an der Öffnung stehenden Beobachter die Nachricht in den Raum: „Bei ‚Mechels’ brennt es.” Und weiter: „Jetzt schlagen bei ‚Orwe Dützersch’ die Flammen aus dem Dach.” Und dann: „Jetzt sind ‚Vitts’ und ‚Möllersch’ getroffen.” Doch auch das eigene Haus blieb nicht unverschont. Durch Detonationen in der Nähe gingen aber nur Fensterscheiben zu Bruch.

Nicht so glimpflich kam die Familie Knipp in ihrem Keller davon. Das schöne und mit dem Giebel zur Straßenseite stehende Fachwerkgebäude war von einer Kettenbombe getroffen worden. Dies waren zwei durch eine Kette miteinander verbundene „normale” Sprengbomben, von denen zunächst eine detonierte und die zweite bei ihrer Explosion die von der ersten verursachten Schäden verstärkte. Nun lag das Haus in Trümmern, die brennend den Keller bedeckten und die vier hilflosen Familienmitglieder sowie eine aus Dortmund evakuierte Mutter mit ihrer Tochter einschlossen. Zu allem Unglück war auch noch ein Phosphorkanister in den Trümmern gelandet. Dessen aus Phosphor und Kautschuk bestehender und mit Wasser nicht zu löschender Inhalt lief aus und strömte langsam, aber unaufhaltsam über die Kellertreppe in den Raum. Durch die Hitze und den beißenden Qualm der brennenden Flüssigkeit erkannte Hermann Knipp die so nahe und tödliche Gefahr und da sich im Keller kein Werkzeug befand, begann er den hoffnungslosen Versuch, mit den bloßen Händen die Trümmerteile zu entfernen. Die Frauen beteten in ihrer Todesangst und baten ihren Herrgott laut um Hilfe. Gerade in dieser angsterfüllten Phase explodierte nicht weit von der Trümmerstätte die Luftmine, die den Bunkerinsassen so schwer zugesetzt hatte. Und es grenzt beinahe an Ironie, dass diese ausschließlich zur Vernichtung gedachte Bombe in jenem Augenblick sechs Menschenleben rettete, denn die Trümmerteile des Hauses wurden in alle Winde gestreut und die Familie Knipp konnte sich durch ein nun frei liegendes Kellerfenster in Sicherheit bringen.

Doch die Luftmine hatte auch Schlimmes angerichtet. Das auf der anderen Straßenseite gelegene Haus „Hirdehannses” wurde förmlich hinweggefegt. Die Trümmerteile flogen bis beinahe in die Nähe des Friedhofs. Die Häuser Kesselersch und Schnells waren so schwer beschädigt, dass ein Totalschaden vorlag. Das neben Schnells liegende Haus Kills geriet durch den Druck etwas aus den Fugen, war aber in der Substanz nicht gefährdet, weil vermutlich die nachfolgende Sogwelle es wieder in die alte Lage rückte.



Absturz zwischen Deuz und Beienbach

Gemäß ihren Aufzeichnungen beendeten die Briten ihren Angriff um 19.40 Uhr und begaben sich auf den Heimflug. Die deutsche Luftabwehr war nicht ganz untätig geblieben. Ein Mosquito- und drei Lancaster-Bomber wurden abgeschossen. Einer von ihnen stürzte auf der Höhe zwischen Deuz und Beienbach ab. Sechs Besatzungsmitglieder retteten sich mit ihren Fallschirmen und gerieten in Kriegsgefangenschaft, der australische Navigator indes kam ums Leben. Vernichtet wurde auch ein deutsches Jagdflugzeug des Typs Me 262. Dies war nicht nur der erste operationsreife Düsenjäger der Welt sondern auch das technisch fortschrittlichste Flugzeug. Es gab aber zu wenige hiervon, um den Alliierten ein wirksamer Gegner zu sein.

Im Keller qualmten die Kartoffeln

Als plötzlich Stille herrschte und die ersten mutigen Männer sich zu den Stolleneingängen wagten und die Türen öffneten, bot sich ihnen ein entsetzlicher Anblick. Grauenvoll war das Bild der geborstenen Häuser und des Flammenmeers, dessen Prasseln nun auch im Bunkerinnern zu hören war. Die Helle der Brände beleuchtete die Ruinen dazwischen, die durch Sprengbomben entstanden waren, aber kein Feuer gefangen hatten. Die Ausschauenden riefen nach hinten, welche der gegenüber liegenden und vom Stollen aus sichtbaren Gebäude zerstört waren. Einzelne Schreie des Entsetzens begleiteten diese Meldungen. Nach und nach eilten die meisten Bunkerinsassen zu ihrem Haus, um zu sehen, ob noch etwas zu retten sei. Auch die noch stehenden Gebäude hatten viele Schäden, die Fenster waren eingedrückt, die Wände gerissen oder die Dächer abgehoben. Hier und da fanden die Besitzer auf den Speichern rauchende Brandnester, die eiligst gelöscht wurden. Die in Bündeln zu 100 Stück abgeworfenen Brandbomben auf Magnesiumbasis bildeten wegen ihrer Vielzahl die Hauptgefahr. Nicht alle Hausbesitzer wurden bei ihrer Suche fündig. So brannten im Verlauf der Nacht das zunächst stehen gebliebene Doppelhaus Heitze/Manneses sowie das Haus Lüttmanns bis auf die Grundmauern doch noch ab. Bei dem erstgenannten Gebäude sahen die tags darauf aus den Nachbarorten herbeigeströmten Schaulustigen am späten Nachmittag noch die Kartoffeln im Keller qualmen. Bei der Vielzahl der Brandstellen im Ort hatte die Feuerwehr keine Chance beim Löscheinsatz. Jeder Feuerwehrmann war natürlich zunächst einmal mit seinem eigenen Haus beschäftigt, so dass ein gemeinsames Handeln erst sehr spät möglich wurde.

Zu allem Überfluss tauchte im abendlichen Verlauf - wie an fast jedem Abend um diese Zeit - auch noch der „Eiserne Heinrich” auf. Dies war ein kleineres Flugzeug der Alliierten, das die meisten schon am Motorengeräusch erkannten. Wenn der Pilot ein Licht sah, schoss er mit seiner Bordwaffe in die Richtung des Lichts oder warf auch schon einmal eine kleinere Bombe ab. In Flammersbach sah er diesmal viele Lichter und feuerte, was das Zeug hielt. Den Einwohnern blieb nur übrig, in eine dunkle und sichere Stellung zu flüchten.

Auch wenn aus einigen Nachbarorten Hilfe anrückte, stand am Ende eine traurige Bilanz. Von den 70 Wohnhäusern in Flammersbach waren 30 zerstört, dazu die Schule, etliche Scheunen und das später einstürzende evangelische Vereinshaus. Anders als in Siegen, wo es 190 Tote gab, und anders als in Kaan-Marienborn, wo 24 Menschenleben zu beklagen waren, wurden in Flammersbach lediglich einige leichtere Verletzungen und eine Rauchvergiftung bekannt.

Nicht vergessen werden dürfen viel totes Kleinvieh und mehr als ein Dutzend Kühe, die aus den brennenden Ställen nicht befreit werden konnten und elend zugrunde gingen. Unter tatkräftiger Hilfe einiger Wilgersdorfer Feuerwehrkameraden fuhr der junge Landwirtsohn Manfred Steuber die Kadaver auf den Stemmbach-Sportplatz. Man warf sie in die auch hier entstandenen Bombentrichter und deckte sie mit Erde zu.

Als die Brandstätten nicht mehr glühten....

Beim schmerzlichsten Ereignis in der Geschichte des Ortes zeigte sich ein riesiger Zusammenhalt in der damals rund 450 Seelen starken Dorfgemeinschaft. Da etwa die Hälfte der Häuser zerstört oder vorläufig nicht bewohnbar war, musste in jedem der noch stehenden Gebäude nach Möglichkeit eine ausgebombte Familie untergebracht werden. Das klappte, auch wenn es hier und da mit Problemen verbunden war. Die Großstadt-Evakuierten beanspruchten keinen Wohnraum mehr, denn sie wurden am Tag nach dem Angriff im unbeschädigt gebliebenen Rudersdorf untergebracht.

Kurz nachdem die Brandstätten nicht mehr glühten und man die Schäden einigermaßen feststellen konnte, begannen bei Einigen auch schon die ersten Überlegungen zum Wiederaufbau. Natürlich wollten viele vor den schier unersetzlich scheinenden Verlusten beinahe verzweifeln und sie glaubten zunächst nicht daran, dass die Schäden jemals wieder beseitigt werden könnten. Doch die zunehmende Tatkraft der Flammersbacher und ein gesunder Optimismus, gepaart mit dem Mut, dem Willen und dem Fleiß der Bevölkerung ließ in wenigen Jahren das Unvorstellbare wahr werden. Als schließlich im Jahr 1949 die Schule wieder eröffnet werden konnte und die Kinder nicht mehr zum Unterricht nach Anzhausen mussten, standen auch fast alle Wohnhäuser wieder auf ihrem alten Platz.

Ausklang

Der Pilot des zwischen Deuz und Beienbach abgestürzten Bombers, Frank Hunter Smith, schrieb nach seiner Heimkehr aus dem Krieg an den Vater seines toten australischen Navigators unter anderem folgende Sätze: „Krieg ist eine Tragödie. Ich kann nur hoffen, dass wir niemals mehr durch eine solche Qual hindurch müssen.”

Aus dem Buch „Der Faustschlag meines Großvaters” von Ulli Weber