Kyrill

Großschadenslage durch Kyrill

Streiflichter zu den Ereignissen am 18. Januar 2007

Es war eigentlich nichts besonderes, als sich ungefähr in der Mitte des Monats Januar südlich des fernen Neufundland die Luftteilchen aus einem Hochdruckgebiet dorthin bewegten, wo der Luftdruck niedriger war. Derlei geschieht ständig rund um den Globus und das Ergebnis der Bewegung nennt man „Wind“. Was aber dem Geschehen im Jahr 2007 eine ungewöhnliche Brisanz verlieh, war der Umstand, dass der Druckunterschied zwischen der arktischen Luft, die minus 30 Grad maß, und der mehr als 50 Grad wärmeren Luft im subtropischen Süden ein so enormes Ausmaß hatte, dass auch der Wind sich mit einer beinahe explosionsartigen Entwicklung bewegte und endlich ein Orkan entstand, der seine Lage mit höchster Geschwindigkeit rasch und unaufhaltsam in Richtung Europa veränderte.

Beim Institut für Meteorologie bei der Freien Universität von Berlin kann man als „Wetterpate“ den Namen eines Hoch- oder Tiefdruckgebiets kaufen. Eine Familie in Neuenhagen, östlich von Berlin gelegen, hatte für ihr Oberhaupt mit dem Vornamen Kyrill anlässlich dessen 65. Geburtstag eine solche Patenschaft erworben.

Am 18. Januar erreichen die ersten Ausläufer „des Herrlichen“ – so die Übersetzung des Namens „Kyrill“ aus dem Griechischen ins Deutsche – das europäische Festland. Auf seinem nur wenig mehr als vierundzwanzig Stunden dauernden Weg über den Atlantischen Ozean hat er schon so manches Schiff in Seenot gebracht und vor allem in Großbritannien mit Schäden in Milliardenhöhe sein ganzes Machtpotential gezeigt. Die unüberhörbaren Warnungen in Deutschland erfolgen mit großem Nachdruck.

Der damalige „Wetterpapst“ Jörg Kachelmann kündigt bei seiner Vorhersage tags zuvor in den am späten Abend ausgestrahlten Tagesthemen der ARD unter anderem an: „Und dieser Orkan ist unterwegs in unsere Richtung und der Tagesthemen-Strömungsfilm zeigt genau, was passiert. Kommt hier vom Atlantik her und wir sehen ihn sich hier vertiefen und dann langsam aber sicher morgen Nachmittag, morgen Abend immer mehr Einfluss auf unser Wetter gewinnen; und was eindeutig ist: die Berge werden sehr viel erleben in Sachen Windgeschwindigkeit; häufig 150 bis 180, örtlich 200 Kilometer pro Stunde auf den Mittelgebirgsgipfeln.

Morgen Vormittag aber zuerst noch eine kurze Wetterberuhigung, bevor es dann mit dem Regen losgeht von West nach Ost; das ist eben dann schon das Sturm- bzw. das Orkantief. Am Nachmittag wird der Wind dann immer stürmischer. Es regnet auch sehr stark. Und dann kommt eben die Kaltfront, zum Teil mit den Schauern und Gewittern und das ist eben der Moment der größten Gefahr. Also, passen sie morgen vor allem Spätnachmittag, abends und in der Nacht auf Freitag besonders auf sich auf. Nicht irgendwo in der Nähe sein, wo irgendwas durch die Gegend fliegen kann und ganz sicher: Einfach zu Hause sein und das Erste gucken.“

Wie von Kachelmann vorhergesagt, verläuft der Vormittag des 18. Januar – ein Donnerstag – noch recht ruhig. Am Nachmittag kommt dann der Wind, zuerst mäßig, dann aber immer stärker blasend. Wer trotz des heftigen Regens zum Himmel blickt, der sieht alle Grau-Schattierungen, die man sich denken kann. Dunkle, fast anthrazitfarbene Fetzen hetzen an den tiefsten Punkten der äußerst unruhigen Wolkendecke in östliche Richtung, dazwischen, in höheren Regionen, helle, eher lichtgraue Felder, die sich brodelnd auf und ab bewegen und zu ihrem Rand hin immer mehr ins Zementfarbene und ins Schiefergraue übergehen. Und alle Formationen erliegen einem raschen, ständigen Wechsel; wo sich eben noch zwei dunklere Stücke zu einer größeren Einheit verbunden haben, ist nun schon wieder ein lichterer Teil der Wolkenmasse ins Gesichtsfeld gekommen.

Unabhängig von den Verfärbungen des Himmels dröhnen die vom Wind verursachten Geräusche. Das schwankende Heulen an sich ist schon geeignet, bei vielen Menschen Verunsicherung zu erzeugen, doch in Verbindung mit dem Getöse der im waldreichsten Kreis der Republik häufig bis an die Ortsränder heranreichenden Wälder entsteht ein Brausen, das auch Furchtlosen unter die Haut geht. Dabei steuern die langen und elastischen Zweige der im Januar noch kahlen Laubbäume ein deutlich kräftigeres Tosen bei als die Nadelbäume, die eher durch ein verhaltenes Zischen die Geräuschkulisse des Orkans bereichern.

Am Ortseingang von Flammersbach, aus Richtung der „Feuersbacher Furt“ kommend, steht gleich hinter der Höhe ein Fichtenwäldchen, das um ein Geringes mehr als ein Hektar misst. Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich an dieser Stelle noch eine der Viehweiden des Orts. Die Nutzer dieses Grundstücks sind die „Altsohlstätter“. Das ist eine Genossenschaft, die sich aus den Besitzern der ältesten 36 Wohnhäuser des Ortes zusammensetzt. Aus diesem Grund nennt man diese Ur-Flammersbacher auch „Die 36er“. Als die Viehweide nicht mehr benötigt wurde, beschlossen die Genossen, die brachliegende Fläche mit Fichten aufzuforsten. Damals war der Nadelwald im Siegerland eher verpönt. Die Förster wendeten zwar viel Überzeugungskraft daran, im Haubergsgebiet für eine größere Verbreitung dieser vielseitig verwendbaren Baumart zu sorgen, doch die Waldgenossen blieben skeptisch. Die Behauptung, dass die Fichten einmal als „Brotbaum“ der Forstwirtschaft bezeichnet werden würde, hätten sie ins Reich der Fabel verwiesen. Hauberg musste Hauberg bleiben!

Auf dem „36er-Stückchen“ indes konnte man ja einmal einen Versuch wagen, vielleicht war es ja tatsächlich eine lohnenswerte Investition zu Gunsten ihrer Nachkommen. Wie konnten die Altvorderen auch nur im Geringsten ahnen, dass sich ihr kleines Dorf, das seit Menschengedenken beinahe unverändert geblieben war, einmal so ausdehnen würde, dass Bauwillige sogar die Nachbarschaft ihres doch so weit entfernten Fichtenwaldes als Baugrund suchen würden?! Und auch die Mitarbeiter der Bauämter, die hierfür die behördliche Genehmigung erteilten, kamen angesichts der zwar langsam, aber doch stetig wachsenden Bäume zu keinem Zeitpunkt auf den Gedanken, dass von dem Gehölz einmal eine Bedrohung ausgehen könne.

Doch nun, im Jahre 2007 und damit gut und gerne drei Generationen später, sind die Bäume über 90 Jahre alt, haben eine Höhe von 35 Metern erreicht und bilden eine potentielle Gefahr für die nur wenige Meter entfernt errichteten Häuser und ihre Bewohner.

Die Unwettermeldungen sind vielerorts sehr ernst genommen worden. Auch die Verwaltung des Kreises Siegen-Wittgenstein ist dank einer schon zwei Tage zuvor eingegangenen Warnung gewappnet und begegnet dem Aufruhr der Elemente frühzeitig. Um die Mittagszeit ist ein 25-köpfiger Krisenstab zusammen gekommen, dem neben den zuständigen Mitarbeitern des Kreises die Einsatzleitung der Feuerwehr angehört; dazu zählen hierzu die Fachberater des Technischen Hilfswerks, der Polizei sowie weiterer Organisationen wie „Malteser“ und „Deutsches Rotes Kreuz“. Der Krisenstab errichtet sein Domizil am frühen Nachmittag in der ehemaligen Feuerwehr- und Rettungsleitstelle des Kreises in der Siegener „Fludersbach“. Es wird ein Zeitabschnitt folgen, in dem sich nicht nur die Kaffeemaschine ins Zeug legen muss. Viele der „Krisenstäbler“ werden erst nach einer 36-Stunden-Schicht das Gebäude wieder verlassen.

Als eine der ersten Maßnahmen werden so genannte „Meldeköpfe“ als Anlaufpunkte für die Einsatzkräfte eines gewissen Gebiets – zumeist mit den Gemeindegrenzen identisch - eingerichtet. Dazu werden alle Feuerwehren in Alarmbereitschaft versetzt. Einstweilen trudeln die von den Versammelten befürchteten Schadensmeldungen eher zögerlich ein und sie betreffen zunächst vor allem Schäden, die die vom Himmel strömenden Wassermassen anrichten.

Auch die Mitglieder des Löschzugs in Flammersbach sind wie alle anderen über ihren „Piepser“ – offiziell „Funkmelde-Empfänger“ genannt – alarmiert worden und haben sich im Gerätehaus versammelt. Dort harren sie der Dinge, die da kommen sollen. Und sie kommen rasch, die Dinge, und sie sorgen dafür, dass jeder der Beteiligten die Bilder dieses und auch des folgenden Tages in seinem Kopf behalten wird.

Die Dunkelheit ist eingebrochen, der Wind legt ein stetig anwachsendes, immer rasanter werdendes Tempo vor, die Folgen sind zunächst jedoch noch vergleichsweise harmlos. Durch die Laubbäume pfeift die schnelle Luft hindurch, reißt allenfalls bei kurzen Böen hier und da einen dürren Ast herab. Völlig anders gestaltet sich die Situation hingegen im Nadelwald. Die längeren Fichten mit ihrem geraden Wuchs schwanken wie Getreidehalme hin und her, bieten freilich auch den auf sie einströmenden Luftmassen dank ihrer unzähligen Nadeln einen erheblich größeren Widerstand als die völlig kahlen Eichen, Birken und Buchen. Das genau ist der Grund dafür, dass die Baumriesen ein weitaus schlimmeres Schicksal erleiden werden als den Verlust von ein paar Ästen.

Gegen 18.15 Uhr triff im Flammersbacher Gerätehaus die erste Meldung über zwei umgestürzte Bäume ein. Gleich am Anfang des „36er-Stückchens“, schräg gegenüber dem Sportplatz, sind die Fichten etwa in Mannshöhe abgebrochen und auf die Kreisstraße gekracht. Rasch erklettert ein aus neun Personen bestehender Trupp das Löschgruppenfahrzeug 8/6, bei kleinen Feuerwehren das am meisten verbreitete Einsatzauto. Drei Minuten nach der Alarmierung ist man vor Ort. Kettensägen befinden sich an Bord, mit deren Hilfe sind nach etwas mehr als einer Viertelstunde die Bäume entastet und an den Straßenrand geschafft.

Trotz des vom Orkan verursachten Getöses vernehmen die „Floriansjünger“, dass im Bestand weitere Bäume fallen. Ihr Krachen ist bis auf die Straße zu hören. Zu sehen ist trotz der ins Dunkel gerichteten Scheinwerfer kaum etwas. Einsatzleiter Torsten Stein erkennt sofort, dass für ihn und seine Mannen Lebensgefahr besteht. Kein Mensch weiß, welcher Baum als nächster umgeblasen wird. Wer kann von den Feuerwehrmännern in diesem Ausnahmefall verlangen, im Gefahrenbereich zu verharren?! Falls weitere Bäume auf die Straße fallen, müssen diese bis zum Ende des Sturms liegen bleiben. Einsatzleiter Stein, zugleich Chef des Flammersbacher Löschzugs, bricht sofort den Einsatz ab, es ist die einzig richtige Entscheidung.

Die europaweite Notrufnummer ist 112. So oft wie am 18. Januar 2007 ist diese Nummer im Kreis Siegen-Wittgenstein noch nie an einem Tag gewählt worden. Im Krisenstab in der Fludersbach gehen im Minuten-, ja beinahe im Sekundentakt die Meldungen besorgter und verschreckter Bürger ein, die von einem Schaden direkt betroffen sind oder einen solchen beobachtet haben. Die Benachrichtigungen betreffen vor allem umgestürzte Bäume und abgedeckte Dächer. Aber es gibt auch Botschaften, die direkt menschliche Schicksale berühren und bei denen die Stabmitglieder den Atem anhalten. So sind nahe Afholderbach 22 Feuerwehrleute und ein Linienbus von umgestürzten Bäumen auf der Landstraße eingeschlossen worden, auf einen Lkw ist ein Baum gestürzt. Dazu sind im weiteren Verlauf der Straße sechs Autos mit jeweils zwei Insassen durch umgekrachte Fichten blockiert.

Westlich des Sportplatzes führt durch eine Waldschneise eine von Deuz über Feuersbach kommende 10-Kilovolt-Freileitung, die den Ort Flammersbach mit Strom versorgt. Begrenzt wird die Schneise auf der einen Seite durch Fichten, die deutlich höher sind als die Gittermasten mit ihren Isolatoren und den hieran befestigten drei Leitungsdrähten. Es ist kurz vor 19 Uhr als die ersten Baumriesen auf die Leitung krachen, als Gittermasten knicken, als Drähte sich berühren. In der Trafostation am Ende der Feldstraße wird der Fehlerfall vom Netzschutzrelais erkannt, der Leistungsschalter tut seine Pflicht und schaltet nach einem vom System vorgesehenen, aber erfolglosen Wiedereinschalteversuch die Stromanlage in Sekundenbruchteilen ab. In Flammersbach wird es dunkel. Kachelmanns Empfehlung vom Tag zuvor, während des Sturms das „Erste“ einzuschalten, können nur noch die wenigen Besitzer eines Stromerzeugungsaggregats nachkommen. Deren Zahl wird sich in den Wochen nach dem Sturm vervielfachen.

Als es dunkel wird macht sich Ursula Frickel auf die Suche nach Kerzen. Ihr Haus steht dem „36er-Stückchen“ am nächsten. Vier Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde es von der Vertriebenenfamilie Rochel erbaut, aber schon vor vielen Jahren haben die Frickels es käuflich erworben. Ausgerechnet jetzt liegt der Hausherr im Krankenhaus und sie muss alleine sehen, wie sie klarkommt. Sie ist, wie viele andere auch, auf einen Stromausfall schlecht vorbereitet, findet auf Anhieb keine Kerzen und vernimmt dann das Krachen von umstürzenden Fichten hinter der anderen Straßenseite. Verzweiflung macht sich breit bei der Erkenntnis, wie gefährdet sie in ihrem Haus ist. Da zucken plötzlich blaue Lichtblitze durch die Dunkelheit. Sie stammen vom Einsatzfahrzeug der Feuerwehr, deren Besatzung die Lage an diesem Brennpunkt sondieren will, da zum „Meldekopf“ nach Wilnsdorf vorübergehend kein Kontakt mehr besteht. Die 57-Jährige nimmt die Chance wahr, stürmt ins Freie, sieht eine erste Fichte in Hausnähe auf der Straße liegen. Nach der hastig vorgebrachten Bitte um Hilfe nehmen sich die Männer ihrer an und bringen sie bei Nachbarn unter. Anschließend suchen die Helfer weitere gefährdete Häuser auf und vermerken in ihren Einsatzberichten unter anderem:

„Herr H… wurde aufgefordert, sein Wohnzimmer zu verlassen, da die ganze Familie hinter dem Fenster stand und schaute wie Bäume in ihren Garten fielen. Es bestand die Gefahr, dass Bäume das Wohnhaus beschädigen.“

„Familie S… (der Mann) wurde aufgefordert, die Straße zu verlassen, da er hier den umstürzenden 35-Meter-Bäumen zuschaute. Ferner wurde die Familie aufmerksam gemacht, dass bei ihnen im Haus durch die Bäume Lebensgefahr besteht. Das Gebäude wollten sie aber nicht verlassen. Am nächsten Morgen konnte dann festgestellt werden, dass die Bäume um das Haus herum gefallen waren und wie durch ein Wunder das Haus nicht beschädigt wurde.“

Bei den Mitgliedern des Siegener Krisenstabs wächst die Anspannung mit jeder neuen Nachricht. Als schließlich bekannt wird, dass sowohl bei der Reha-Klinik in Hilchenbach als auch beim DRK-Altenheim in Neunkirchen große Teile der Dächer vom Orkan abgedeckt wurden und eine Evakuierung droht, ist eine neue Dimension erreicht. Weitere und schlimmere Unglücksfälle liegen in der Luft. Hilfe kann bei dieser Größenordnung nur noch durch eine gemeindeübergreifende Verzahnung aller Einsatzkräfte geleistet werden.

Die Spitzen des Krisenstabs, Kreisbrandmeister Bernd Schneider und der Leiter des Kreisordnungsamts, Henning Setzer, werden sich rasch einig. Sie empfehlen im Rahmen einer Lagebesprechung dem Landrat die Verkündung der „Großschadenslage“. Durch diese Maßnahme – landläufig „Katastrophenalarm“ genannt – wird die erforderliche Koordinierung der Einsätze möglich. Als Ziel wird ausgegeben, zunächst Hilfe dort zu leisten, wo sie am wichtigsten ist. Landrat Breuer kommt der Empfehlung sofort nach.

Im Krisenstab wird dazu nach kurzer Diskussion die Entscheidung getroffen, sofort alle Einsatzkräfte im Kreisgebiet aus dem Wald und dessen unmittelbarer Umgebung abzuziehen. Bis zu diesem Zeitpunkt sind keine nennenswerten Verletzungen von Personen gemeldet worden. Nicht zuletzt durch die Tatsache, dass inzwischen über 80 Straßen gesperrt wurden und damit der komplette Verkehr im Kreisgebiet zum Erliegen gekommen ist, wird außerdem verkündet, dass Schulen und Kindergärten am nächsten Tag geschlossen bleiben. Es ist 19.21 Uhr. Neun Minuten später stellt erstmals in ihrer Geschichte die Deutsche Bahn bundesweit den gesamten Zugverkehr ein.

Kyrill hat seine größte Kraft immer noch nicht zum Einsatz gebracht. Bis 21 Uhr weiß der Orkan noch einiges zuzusetzen, bläst zunehmend stärker. Auf dem Kindelsberg werden sagenhafte 205 km/h gemessen. Es ist dies der Zeitraum, in dem hauptsächlich die Schneisen der Zerstörung in die heimischen Wälder geschlagen werden – ohne dass irgendjemand zuschaut. Waren es zuvor einzelne Bäume, die sich auf die Seite legten, so sind es durch die Kraft der starken Böen nun große Flächen, die komplett abrasiert werden. Im Kreis Siegen-Wittgenstein bläst „der Herrliche“ 2,8 Millionen Bäume um, in ganz Südwestfalen sind es 25 Millionen. Fassungslos schauen in den Tagen danach allerorten die Waldbesitzer, aber auch die übrigen Anwohner der Dörfer und Städte auf kahl gefegte Kuppen und völlig veränderte Landschaften. An manchen Stellen sind durch Turbulenzen nur einige Dutzend Bäume betroffen, die wirr durcheinander liegen, an anderen hat der Wind hundert Meter und mehr scharf begrenzte Kahlschläge gerissen, in denen die Fichten in Reih und Glied nebeneinander liegen.

Nach Mitternacht wird endlich das nervende Rauschen schwächer, Kyrill ist dabei, sich in Richtung des Baltikums zu verziehen. Die Männer des Löschtrupps Flammersbach sind vom Meldekopf in Wilnsdorf am späten Abend noch zu einigen Einsätzen beordert worden. Beinahe ausnahmslos ging es um abgedeckte Dächer von Häusern und Schuppen. Die Morgendämmerung hat noch nicht eingesetzt, da erreicht sie nach wenigen Stunden Schlaf schon der erste Einsatzbefehl des neuen Tages. Es gilt, mit allen Kräften die vom Ort in Richtung „Feuersbacher Furt“ führende Kreisstraße wieder befahrbar zu machen. Neben den beiden Feuerwehr-Fahrzeugen kommen zwei Seilwindenschlepper und acht Motorsägen zum Einsatz. Viereinhalb Stunden dauert es, dann ist die Arbeit getan und die Straße frei. Auch vor dem schon des Öfteren erwähnten „36er-Stückchen“ mussten die hier auf die Straße gefallenen Bäume entfernt werden. Bis auf ein paar der wegen ihrer besseren Widerstandsfähigkeit stehen gebliebenen Randfichten hat Kyrill ganze Arbeit geleistet und die alten Giganten allesamt niedergestreckt.

Es ist dies ein grundsätzliches Dilemma der flach wurzelnden Fichten: Sie bieten eine große Angriffsfläche und finden hierfür nicht genügend Halt. Wenn sie auf lockerem Boden stehen oder wenn der Untergrund durchnässt ist, dann stürzen sie vielfach mitsamt ihrem Wurzelteller. Diejenigen, die sich am nächsten Morgen in die Nähe des Waldes trauen, sehen diese umgestürzten Riesen als senkrechte Wände von Wurzeln und Erdreich dort liegen. Zu sehen sind aber auch viele stattliche Bäume, die in einem oder zwei Meter Höhe abgeknickt oder abgebrochen sind. Weiße gesplitterte Spitzen ragen gen Himmel. Erinnern sie an mahnende Zeigefinger oder gar demonstrativ an herausfordernde Mittelfinger?

Nach wie vor ist Flammersbach ohne Strom und damit ohne funktionierende Steckdose und ohne Licht. Wer einen Kohleofen sein eigen nennt, ist gut dran. Zu ihnen gehört Frau Frickel nicht. Nach ihrer Ausquartierung am Vorabend ist sie wieder in ihr Wohnhaus zurückgekehrt. Glücklich stellt sie fest, dass dieses unbeschädigt blieb. Doch ohne eine laufende Heizung ist es ungemütlich kalt, dazu ist der Inhalt ihrer Tiefkühltruhe massiv gefährdet. Stunde um Stunde vergeht, das Gefriergut taut immer mehr auf. Wie viele andere Einwohner auch wird sie dieses letztlich entsorgen müssen.

Dabei sind die Mitarbeiter des Energiekonzerns RWE nicht untätig. Mit dem ersten Morgenlicht sind sie bis fast nach Feuersbach marschiert um festzustellen, wo überall Handlungsbedarf besteht. Das alleine war schon höchst gefährlich, denn viele Bäume stehen geneigt und drohen im nächsten Augenblick umzufallen. Dann haben sie mit dem Freischneiden der Leitungen begonnen. Eine zeitaufwändige Angelegenheit, denn ständig muss bedacht sein, wie sich die unter Druck stehenden Drähte verhalten werden. Jochen Eckhardt, der Leiter des RWE-Montagetrupps, erläutert am Abend in der Lokalzeit des WDR in etwa so die Problematik in Flammersbach: „Die Leitungen könnten hochspringen; aber wir hängen sie (von den Isolatoren) runter, damit da nichts passiert. Die Tannen liegen auf den Leitungen und erzeugen Druck. Wenn sie dann frei geschnitten werden, kann es sein, dass sie hochschnellen; da muss man vorsichtig arbeiten, dann geht`s. “

Das Aufnahmeteam ist zu einem Zeitpunkt vor Ort, als die Freiwillige Feuerwehr im Rahmen der „Großschadenslage“ den Auftrag, den RWE-Fachleuten zu helfen, schon bekommen hat. Längst vorbei ist die Zeit, als die Aufgabe der Feuerwehr beinahe ausschließlich „Löschen“ hieß. Viele Herausforderungen sind hinzugekommen. Gezeigt hat sich bei „Kyrill“ einmal mehr, dass ohne die ehrenamtlich tätigen Kräfte der Feuerwehren, des technischen Hilfswerks und ohne sonstige Helfer eine derartige Krisensituation nicht bewältigt werden kann. Sie vor allem verdienen das höchste Lob, denn sie engagieren sich nicht nur bei Wind und Wetter, sondern auch in ihrer Freizeit und damit ohne Bezahlung für das Gemeinwohl. Dank einer guten Ausbildung meistern sie viele schwierige Situationen in der Regel mit Bravour.

Der stromlose Zustand dauert bis gegen 16 Uhr. Erst dann ist schließlich alles repariert, der Strom kehrt wieder und auch die Flammersbacher können die Lokalzeit einschalten. Den entsprechenden Bericht leitet Moderator Dirk Glaser mit den Worten ein: „Viele Menschen in der Region mussten große Teile der vergangenen Nacht im Dunkeln verbringen.“ Aufnahmeleiterin Kathrin Pröbstl bringt danach in ihrem Beitrag mit ihrem ersten Satz die Sachlage vor Ort auf den Punkt: „Unter Einsatz ihres eigenen Lebens versuchten Mitarbeiter der RWE und der Feuerwehr diese 10.000-Volt-Leitung nahe Flammersbach heute Morgen wieder freizuschneiden.“ Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die zerstörte Freileitung nicht erneuert wurde, sondern das RWE verlegte sie später als Erdverkabelung.

In Flammersbach liegen rund 4.500 Festmeter Fichten mit und ohne Wurzelteller kreuz und quer am Boden. Alle Bestände sind mehr oder weniger stark betroffen. Da dies in der gesamten Region ähnlich aussieht, ist zunächst kaum an entsprechende Maschinen zur Aufarbeitung zu kommen. Oberförster Ahlborn nimmt als Vertreter des Forstamts während der Jahreshauptversammlung der Flammersbacher Waldgenossen wie folgt Stellung: „Der Orkan Kyrill war die bisher größte Katastrophe im Wald Nordrhein-Westfalens. Erfreulicherweise gibt es Zuschüsse des Landes bei der Wiederaufforstung, allerdings nur für Laubholz, nicht aber für Fichten.“

Aus dem Buch „Der Faustschlag meines Großvaters“ von Ulli Weber